KATALOGBEITRAG


„Wie wenig von der Wahrheit ist mir zu sagen gelungen, wie wenig von der ganzen Komplexität habe ich gepackt; wie kann dieses kleine, ordentliche Ding wahr sein, wenn alles, was ich erlebt habe, so rauh und offenkundig formlos und gestaltlos war.“


Ist eine Arbeit beendet, stellt sich gelegentlich Unzufriedenheit ein. Doris Lessings oben zitierte Ausführungen aus dem Vorwort zu ihrem Roman „Das goldene Notizbuch“ von 1971 beschreiben die Gedanken einer Schriftstellerin beim Abschließen eines Buches. Ähnliches empfindet eine Künstlerin, die, nach einer Phase des ,distanzlosen‘ Arbeitens, am Ende auftaucht und in Abstand zu ihrer Arbeit geht. Es kann passieren, dass sie sich fragt, was diese Arbeit eigentlich mit ihr zu tun hat. In einem zweiten Schritt erstaunt es sie, wie unterschiedlich doch die Reaktionen auf ihre Arbeit sein können und wie wenig diese mit dem zu tun haben, was sie selbst beim Arbeiten beschäftigte.


Wie also hängt dieses „Ding“, das hier entstanden ist, mit der Künstlerin selbst zusammen, mit der Welt und denjenigen, die es sehen und in Austausch mit ihm treten? Und welche Rolle spielt die Haltung der Künstlerin dabei?


Doris Lessing, die sich zeitweise in kommunistischen Kreisen engagierte, befand sich als Autorin zwischen zwei literarischen Postulaten gefangen: Einerseits gab es von Seiten der kommunistischen Bewegung die Erwartung an die Schriftstellerinnen, ‚objektiv‘ zu schreiben. Andererseits entwickelte sich immer mehr der Druck aus schriftstellerischen Kreisen, die eigene subjektive Erfahrung in den Vordergrund zu rücken.


In der Kunst wird die Debatte um das Objektive und Subjektive anders geführt. Mehr noch als in der Literatur hat hier allerdings vor allem das Diktat des Subjektiven Bestand. Beinahe ist es so, dass es keine Möglichkeit gibt, nicht stark subjektiv zu sein. Das, so beschreibt es Lessing für die Literatur, hat in der Vergangenheit zu einem „isolierten und monströs narzisstischen“ Künstlerinnentypus (Lessing) geführt, der lediglich aus sich selbst schöpferisch tätig wird, keine Bezüge mehr zum Außen herstellt – und mittlerweile schwer erträglich ist.


Wie also lässt sich diese Subjektivität der einzelnen Künstlerin neu verorten, ohne sich dabei vom Subjektiven an sich zu verabschieden?


Für Doris Lessing ist der Weg aus diesem Dilemma die Erkenntnis, dass nichts in dem Sinne nur persönlich oder ausschließlich das Eigene ist. Es ist der beinahe schockierende Moment des Kindes, das erkennt, dass die eigene, einzigartige Erfahrung, zugleich das ist, was alle erfahren. Diese Erfahrung bietet die Möglichkeit, das Persönliche oder Subjektive zu durchbrechen und – in der Beschreibung der eigenen Probleme, Freuden, Gefühle oder Dringlichkeiten und außergewöhnlichen Ideen – in etwas Größeres zu verwandeln, das Private zu einem kollektiven Allgemeingut zu machen. Und das subjektive Empfinden mit der Außenwelt zu verknüpfen.


Von hier aus kann der Prozess beginnen, sich zwischen dem Außen und dem Innen zu verorten. Jede Künstlerin wird das auf ihre Weise tun und sich an einem ganz spezifischen Standpunkt ansiedeln. Eventuell erkennt sie, dass sie als Künstlerin mit all ihren Arbeiten nur einen Satz beitragen kann, diesen aber immer wieder formulieren wird – aus unterschiedlichen Perspektiven und mit mehr Nähe oder Distanz zu ihm. Beim Fortschreiten, beim Einkreisen dieses Satzes, kann es sein, dass ihr manchmal die Sprache abhandenkommen wird. Dann war ihr die Arbeit ein Stück voraus, die Worte für das „Ding“ werden erst wieder gebildet werden müssen. Immer wieder wird sie auch mit der Enttäuschung konfrontiert werden, dass das, was da vor ihr steht, hinter ihren Gedanken zurückbleibt. Dabei kann allerdings die Erkenntnis wachsen – so beschreibt es zumindest Doris Lessing – dass nur durch die Beschränkung und das Formen des Formlosen Substanz im wörtlichen Sinne entsteht. Das Formlose ist in eine Form gebannt und kann nun auch von anderen geteilt werden. Dieses Ausstellen der Arbeit – die in diesem Prozess auch eine mitunter schmerzhafte, weil entblößende Ablösung bedeutet – kann weitere Enttäuschungen oder Überraschungen produzieren: Jede Betrachterin wird die Arbeit anders lesen. Ist das ein schlechtes Zeichen? Ist die Arbeit demnach zu unkonkret?


Keineswegs. Es zeigt nur, dass die Hoffnung der Künstlerin, von der Betrachterin genau in ihrem Sinne verstanden zu werden, eine kindliche ist. Denn eine Arbeit ist nur dann „lebendig und kraftvoll und befruchtend […], fähig Gedanken und Diskussion zu fördern, wenn [ihr] Entwurf, [ihre] Form und [ihre] Intention nicht verstanden werden, denn der Moment, in dem Form und Entwurf und Intention verstanden sind, ist auch der Moment, in dem nichts weiter herauszuholen ist“ (Lessing). Etwas Neues kann beginnen.


Text: Su-Ran Sichling
erschienen im Diplomkatalog 2019 der Hochschule für Bildende Künste Dresden, 2019