TEXTE ÜBER DIE KUNST


ARTIST STATEMENT


Ich beschĂ€ftige mich in meinen Arbeiten mit Praktiken der Inklusion und Exklusion, transkulturellen Gemeinschaften und dem Gegensatz von NatĂŒrlichkeit und KĂŒnstlichkeit. Ausgehend vom Geschichtsbegriff Ernst Cassirers hinterfrage ich die historischen Konjunkturen, durch die die Welt in so unterschiedlichen Bereichen wie nationalen GeschichtserzĂ€hlungen, traditionellen Kulturtechniken oder dem Einsatz von Baumaterialen als ‚natĂŒrlich‘ entstanden oder ‚kĂŒnstlich‘ geschaffen erlebt wird. In meinen Arbeiten, die hĂ€ufig mit versteckten Ornamenten, Mustern und Strukturelementen spielen, verwende ich bevorzugt Werkstoffe, die sich bau- und designgeschichtlich auf die ersten Jahrzehnte der Nachkriegszeit beziehen. Diese Materialien haben bei mir nicht nur eine formale oder Ă€sthetische, sondern auch eine handelnde, performative Ebene, durch die der Gegenstand meiner Arbeit oft im Material selbst erneut verhandelt wird. Ein Hauptgegenstand meiner Arbeit stellt in den letzten Jahren das kulturelle SelbstverstĂ€ndnis sozialer Gruppen, insbesondere im Kontext der deutschen Einwanderungsgeschichte in der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts dar. Dabei entscheide ich mich bewusst gegen einen ethnographischen Blick auf westdeutsche Gastarbeiter_innencommunities oder Vertragsarbeiter_innen und ihre Nachkommen in der DDR. Vielmehr zielt mein kĂŒnstlerischer Ansatz darauf ab, das Selbstbild der weißen Mehrheitsgesellschaft zu fokussieren und dessen ‚natĂŒrliche‘ VerhĂ€ltnisse zu irritieren. Meine BeschĂ€ftigung mit Material und handwerksbasierten Techniken sehe ich nicht als eine rĂŒckwĂ€rtsgewandte Setzung in Bezug auf die vieldiskutierte „Postproduction“, sondern vielmehr als Einschreibung in andere, postkoloniale Praktiken der Diaspora, die sich gegen den mehrheitlichen und hierarchischen Kunstkanon des Westens richtet, der schon seit jeher die Kunst ĂŒber das Handwerk stellt.


GELEHRTENSTEINE


Nikolai Brandes fĂŒr die Onlinepublikation "Das Wissen der KĂŒnste", 2020

Ausgehend von der asiatischen Tradition der Gelehrtensteine lotet Su-Ran Sichling das VerhĂ€ltnis von Natur und Kultur aus. In ihrer Auseinandersetzung mit den Werkstoffen der Nachkriegsmoderne, insbesondere Terrazzo und Waschbeton, beobachtet sie BezĂŒge zwischen der PseudonatĂŒrlichkeit der Materialien und der Pseudonatur einer Geschichte der BRD, die sich erst langsam als Einwanderungsland zu verstehen beginnt. Dabei fragt ihre Arbeit auch, inwieweit sich ein sinnlicher, materialitĂ€tsbetonter kĂŒnstlerischer Ansatz mit einer Agenda der artistic research vertrĂ€gt, die im Zusammenhang mit dekolonialen Debatten Inhalte hĂ€ufig gegenĂŒber der Form privilegiert.

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Katalysator Ornament


Gwendolin Kremer, 2012 im Katalog fĂŒr "Die Passion des Realen"
Bereits in ihrer Diplomarbeit „Museum“ (2010) im Dresdner Ausstellungsraum Oktogon der Hochschule fĂŒr Bildende KĂŒnste Dresden (HfBK) befasste sich Su-Ran Sichling (*1978 in NĂŒrnberg) intensiv mit der Frage von OberflĂ€chenstrukturierungen.
Im KIT hat Sichling auf einem in Ultramarinblau gehaltenen Untergrund eine hellrosafarbene Struktur mit einer Musterrolle aufgebracht und darĂŒber ein fortlaufendes florales Reliefband in Keramik gelegt: „MoirĂ© (KittelschĂŒrze)“. Die monumentale Ornamentwand – sie umfasst 16 Quadratmeter – fordert den Besucher dazu auf, sie in einer Nah- und einer Fernsicht zu betrachten. Wer mit einem großen Abstand auf „MoirĂ©â€œ blickt, wird die hellrosafarbene Struktur der Tapetenrolle und das darĂŒber gelegte Keramikband vermutlich nicht unterscheiden können, der so genannte MoirĂ©-Effekt, das Ineinanderfließen zweier Strukturen, tritt ein. Beim NĂ€hertreten werden das reliefartige, in Keramik gefasste Musterband und die darunter zu sehende, gemalte Tapete als eigenstĂ€ndige Strukturen erkennbar. Durch die gleichmĂ€ĂŸig rhythmisierte Abfolge des Wandmusters kommt ihre All-over-Dimension zum Tragen; die Wand aus nĂ€chster NĂ€he betrachtend, wird sie den Besucher ob ihrer schieren GrĂ¶ĂŸe umfangen und visuell ĂŒberwĂ€ltigen. Hatte Su-Ran Sichling bislang ihre Wandarbeiten hĂ€ufig mit einzelnen eher kleinteiligen GegenstĂ€nden kombiniert, findet in „MoirĂ©â€œ nun erstmalig eine gleichwertige Behandlung von gestaltetem Hintergrund und Vordergrund statt. Die ornamentalen Strukturen der Muster fĂŒhren zu einer Radikalisierung und befördern in einem zweiten Schritt den Abstraktionsgrad der Wandarbeit. DarĂŒber hinaus beinhalten ihre Untersuchungen zum Muster per se zugleich die Hinterfragung sozio-gesellschaftlicher Muster und Stereotype, wenn zeithistorische BezĂŒge ĂŒber die Struktur eines Musters einer KittelschĂŒrze transportiert werden.
Neben ihren strukturellen Wandarbeiten beschĂ€ftigt sich Su-Ran Sichling in ihrer zweiten Arbeit, „Geschichte wird gemacht (nach Ernst Cassirer)“ (2010/12), mit PrĂ€sentationsformen von Kultur. Sie nimmt Bezug auf einen Aufsatz des Philosophen Ernst Cassirer (1874-1945) ĂŒber den stĂ€ndig sich erneuernden Verdauungsprozess von Kunst und fragt: „Was ist wichtig, was fĂ€llt raus?“ Die auf drei Beinen stehende Vitrine wird durch einen hohen Keramik-Schlot in einem dunklen Rot mit einer hellblauen Rauchwolke ergĂ€nzt. Eine aus Gaze gefertigte Halskrause, Sinnbild fĂŒr die Trennung von Körper und Geist, ist darin genau auf der Höhe des Halses der KĂŒnstlerin ausgestellt.



Auch Könige lassen sich manchmal hÀngen


Grit Mocci, 2010 im plusz-magazin der SĂ€chsischen Zeitung
Das „Joch“ bleibt ein Joch, auch wenn sich bunte Girlanden darum winden. Ein „Schwebebalken“ hingegen mit gefĂ€lteltem Überzug auf Schraubzwingen-FĂŒĂŸen dĂŒrfte seiner eigentlichen Bestimmung nur noch schwer gerecht werden und verfĂŒhrt vielmehr zum Nachdenken ĂŒber Begriffe wie Haltung und Balance. Die „Vitrine“ scheint nur auf den ersten Blick ein richtiger Schaukasten zu sein: Die Winkel sind verzogen, und an einem Bein wuchert eine hölzerne Form, die etwas von einem Instrumentenkasten hat und auch etwas sehr Weibliches. DafĂŒr ist der „Hocker“ tatsĂ€chlich zum Sitzen da, obwohl die buckeligen Kissen bemalt wie Delfter Fliesen und aus Keramik sind. Su-Ran Sichlings Objekte wirken vorderhand recht spielerisch, manchmal balancieren sie bedenklich nah am Rand zum Kitsch. Die KĂŒnstlerin mag jenes QuĂ€ntchen des Zuviel. Sie mag auch den Kontrast der Materialien, wenn - wie im konkreten Fall - die unverputzte Ziegelwand auf die glatte, metallisch schimmernde OberflĂ€che barocker Obstreliefs trifft, die wiederum ein streng geordnetes Muster ergeben. FĂŒr das Selbstbildnis vor asiatischen Porzellanvasen posiert die Schöpferin der Installation im neonfarbnen TĂŒllkostĂŒm. Die Dinge dĂŒrfen sogar mal komisch sein. „Lieber etwas lieblicher“, meint Su-Ran Sichling. Und besser, die Erkenntnis kommt auf Zehenspitzen als mit dem Holzhammer. Die gebĂŒrtige NĂŒrnbergerin empfindet OberflĂ€chen gleichermaßen anziehend wie abstoßend, eine Gradwanderung, die sie dazu inspirierte, ihren abgeformten Keramikobjekten eine irritierende Farbfassung zu verpassen, dass sie wirken wie aus schwarzem Gummi.
Mit ihrem mehrteiligen Diplom „ohne Titel“ untersucht die Studentin der Bildhauerei „Beziehungen von OberflĂ€che, Wiederholung und Schmuck auf ihre FĂ€higkeit zu allgemeingĂŒltigen Aussagen“. Ornamentik, Ă€ußere Form, Mode und vermeintliche FunktionalitĂ€t werden dabei auf ihre Ă€ußerlichen Festschreibungen befragt. Am Ende verweisen sie nicht auf festgelegte Funktionen, sondern darĂŒber hinaus und manchmal auch ins Leere. Am Anfang der Assoziationskette stand eine Halskrause wie man sie im 17. Jahrhundert trug. Su-Ran Sichling gefiel die Ambivalenz zwischen Schmuck, Etikette und Einengung des Körpers an empfindlicher Stelle. Wie viele Teile ihrer Arbeit ist die prĂ€sentierte Krause nicht original, aber glaubhaft nachgemacht und damit ein wesentlicher Aspekt der Gesamterscheinung des Diploms. FĂŒr die zahlreichen Objekte aus Keramik konnte die 31-JĂ€hrige dabei auf ihre Töpferausbildung bauen. Diese handwerkliche Basis wusste sie gut fĂŒr sich zu nutzen: „Das Material hat mir das kĂŒnstlerische Arbeiten fast spielend leicht gemacht.“



This is not a Pattern


Dr. Holger Birkholz, 2009 im Katalog fĂŒr "LebenLiebenLeiden - Frauenbilder junger KĂŒnstlerinnen"
Biedermeier RecarmiĂšren oder die wunderbaren SofaentwĂŒrfe von Otto Wagner zur Zeit der Wiener Sezession werden gern von Polsterknöpfen strukturiert. Sie verleihen der LiegeflĂ€che halt und geben der OberflĂ€che eine geometrische Gestalt. Sie lassen das MöbelstĂŒck in schlichter Sachlichkeit auftreten und erhöhen zugleich dessen Komfort. Daran mag man sich erinnert fĂŒhlen angesichts einer Plastik von Su-Ran Sichling, der ein Titel zur Seite gestellt ist mit der schlichten Behauptung „This is not a Pattern“. Dabei scheint die ornamentale Struktur der Arbeit offensichtlich. Aus der Betrachtung des Werkes und der Titelbehauptung erwĂ€chst ein Raum der Unvereinbarkeit, der Irritationen hervorruft und nach anderweitigen Lösungen verlangt.
Sichlings Plastik verbindet verschiedene Materialien, die in ihrer Haptik gegeneinander stehen. Weicher weißer Schaustoff mutet wie Badeschaum an und bekommt dennoch hier in seinem Zuschnitt eine scharf umrissene Kontur. Unterstrichen wird diese Festigkeit durch die MDF-Platte, die ihm als TrĂ€ger dient. Dem gegenĂŒber erscheinen 29 Schraubzwingen, die ihrem Namen entsprechend den Schaustoff auf die Platte zwingen und dabei mit ihren schwarzen Halterungen im Kontrast Akzente setzen. Es handelt sich um 14 Zwingen am Rand und fĂŒnf Dreiergruppen, die sich wie Sterne in die weiche FlĂ€che graben. Auf diese Weise entsteht eine Art schlichtes Muster, das die bestehende Form und Funktion des Werkzeugs nutzt. Ihre blanken Metallschienen werden zu FĂŒĂŸen des Objektes und weisen zugleich wie mit Messerklingen nach außen. Die leuchtend roten Holzgriffe bilden weitere Blickpunkte, die belebend die dominierende Monochromie des Objektes durchbrechen.
Material und Farbigkeit bilden in ihren GegensĂ€tzen eine spannungsvolle Erscheinung, neben der eben die Behauptung steht, es handle sich nicht um ein ‚Pattern’ (Ornament, Muster, Modell 
). Wenn die Plastik also nicht rein Ă€sthetisch als formale Struktur betrachtet werden möchte, dann muss man sich nach den damit verbunden inhaltlichen Komponenten fragen. Sofa oder Bett sind beide Orte der Ruhe und der Erholung. Sie werden aber auch erotisch mit weiblicher VerfĂŒhrung assoziiert. Die feministische Kunstwissenschaft hat sich in den letzten dreißig Jahren eingehend kritisch mit der scheinbar unĂŒberwindbaren Vorstellung von der VerfĂŒgbarkeit der im Liegen dargestellten Frau fĂŒr ihren mĂ€nnlichen Betrachter befasst. Die Frau erscheint dabei idealisiert mit warmweicher Haut, ruhend ausgestreckt, scheinbar schlafend, um vom Mann ‚bezwungen’ zu werden, der sich oftmals in der Kunstgeschichte bei GemĂ€lden dieses Themas von hinten anschleicht.
Man fragt sich, ob nicht dies das eigentliche Muster ist, ein gesellschaftliches Muster und dessen Perpetuierung durch öffentliche Bilder unter anderem in Form der Kunstgeschichte. Wenn aber Sichlings Plastik als ‚Pattern’ kein Muster ist, dann ist es vielleicht auch kein Zeichen, sondern eine Inszenierungen von Materialbeschaffenheit, die sich in im Gegensatz von hart und weich körperlich erfahren lĂ€sst.



Über die „Hocker“ aus der Installation „Museum“


Link zur Arbeit
Dr. Holger Birkholz, 2015, Ausstellungstext "Vom WĂŒhlen im Dreck"
Auf diesen Hockern, auch wenn sie noch so schön aussehen, kann man sich nicht bequem niederlassen. Die stark aufgewölbten Polster wirken aufgeblĂ€ht, als wĂŒrden sie sich dem Betrachter direkt zuwenden. Darin scheinen sie ihn eher davon zu warnen, Platz zu nehmen, anstatt ihn einzuladen. TatsĂ€chlich könnte man darauf sitzen, die StabilitĂ€t des Materials lĂ€sst das problemlos zu. Die Polster sind aus glasierter Keramik und deshalb zwar nicht weich und angenehm, sondern bucklig hart und abwaschbar, aber dennoch tragfĂ€hig. Ihre glĂ€nzende OberflĂ€che ist bemalt mit einem Muster aus Schiffen, das man eher auf Delfter Fliesen erwarten wĂŒrde als auf einem Polsterbezug. FĂŒr die Niederlande des 17. Jahrhunderts sind diese Schiffe Zeichen des Wohlstandes und einer gewissen Weltoffenheit. Heute werden sie, mit einem anderen Geschichtsbewusstsein, als Motive des Kolonialismus und der damit verbundenen Ausbeutung gedeutet. Die Beine der Hocker sind geschwungen, wie man das insbesondere bei Möbeln seit dem Barock liebte. Die Objekte weisen in die Vergangenheit zurĂŒck und stellen die Frage nach der Auswahl von GegenstĂ€nden der Erinnerungen in Museen. Ihre SitzflĂ€chen durch die Übertragung in ein anderes Medium zu verwandeln, macht sie zu Plastiken und eröffnet einen Raum der kritischen Reflexion dieser Motive. [Die Ausstellung] „Vom WĂŒhlen im Dreck“ bezieht sich hier nicht nur auf die Arbeit mit keramischem Material, sondern auch auf die Auseinandersetzung mit verdrĂ€ngten historischen StrĂ€ngen und deren Lesarten, die in den ĂŒberlieferten GegenstĂ€nden aufbewahrt sind und unser kollektives GedĂ€chtnis bestimmen.